VON HARMONISCHEN KURVEN UND INNEREM HALT IM KOPF
Mattsee (Leo). Afrika, 6 Mio Jahre vor unserer Zeitrechnung. Die Linie menschlicher Vorfahren trennt sich vom Schimpansen. Es entwickelt sich über Tausende und Abertausende von Jahren der “homo erectus” – der aufrechte Mensch, der etwas einzigartiges aufweist: den aufrechten Gang. Aber auch das Gehirn erfährt eine gewaltige Veränderung…
Der homo erectus ist geboren – der aufrechte Mensch
Damit ändert sich alles. Die von Tom Myers als eine der zwölf Anatomy Trains benannte “Oberflächliche Rückenlinie” wird also immer kürzer und kräftiger. Für die Wirbelsäule ergeben sich zwei interessante Veränderungen – der Körperschwerpunkt wird zum Rücken hin verlagert, und wir erhalten Wirbelsäulen-Krümmungen am Hals und am Becken. Durch diese Veränderung des Körperschwerpunktes in die Lotrechte übernimmt das Becken auch fortan die Aufgabe, die inneren Organe zu stützen.
Die Wirbelsäule ist im Idealfall eine Sequenz harmonischer Kurven. Wir sind heute eine “spannungsabhängige Konstruktion”, denn aus dem Übereinanderstellen aller Knochen alleine wird noch keine selbst-tragende Statur. Erst, wenn die von Tom Myers so genannte “Myofasziatur” auf das Skelett aufgezogen wird, können wir stehen und beginnen nun, uns zu bewegen. Ist diese Spannung im ganzen Körper ausgewogen, sind die Zugkräfte in allen zwölf Anatomy Trains (= Faszienzügen) annähernd gleich, dann sind wir fit und jugendlich-beweglich.
Wie halten wir denn diese Körperspannung so ausgewogen und bleiben somit jugendlich-beweglich ?

Die Antwort ist: mit innerem Faszientraining. Bevor wir eine Bewegung beginnen, stellen wir uns diese nur einmal vor. Studien beweisen, dass das Nervensystem auf die Vorstellung einer Bewegung ähnlich wie auf die tatsächliche körperliche Bewegung reagiert (Malouin et al. 2003). Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Körperstelle, um die es in der Bewegung gleich gehen wird. So entwickeln wir die Vorstellung eines elastischen, inneren Halts. Das braucht Zeit und gutes Personal, klar. Hat man diesen inneren Halt allerdings tatsächlich einmal gefunden, kann man sich darin entspannen. Klingt das wie ein Widerspruch ? Dann gebe ich Euch ein Bild: stellt Euch vor, Ihr blast Euch auf wie ein Heißluftballon. Dabei dehnt Ihr Euch nach allen Seiten maximal aus, ohne Euch dabei zu überdehnen oder gar zu verkrampfen. Ihr seid einfach der oder die Größte, die Ihr sein könnt. Fühlt sich auch toll an, weil innerhalb einer Minute als super Nebeneffekt das Stresshormon Cortisol in den Keller rauscht und wir uns in dieser Siegerpose auch wie ein Sieger fühlen. Herrlich ! DAS ist der innere Halt. Haben wir diese Haltung perfektioniert, ist der nächste Schritt leichter: unsere darunterliegende tiefe Muskulatur lockerzulassen.
Wenn wir die Halswirbelsäule mit ihren Bewegungspolen Kopf und 1. Brustwirbel so trainieren, dann erhalten wir den Raum zwischen Kopf und Schultern. Wir knicken also den Nacken nicht, sondern führen eine raum-erhaltende Bewegung aus, bei der der Nacken lange und aufgespannt bleibt. Der Kopf fällt nicht nach hinten, sondern wir ziehen ihn erst nach oben und dann sanft nach hinten. Diese Art der Bewegung nenne ich “fine-tuning”. Obwohl es eine sehr feine ist, spüren wir sofort, wie die Wirbel unter dem aktivierten Spannungsnetz mitgehen. Je feiner wir “getuned” sind, desto besser können wir wahrnehmen, wie sich dieser “flow” über die Wirbelsäule ausbreitet. Eine solche fasziale Übung ist leicht, langsam, und braucht wenig Muskelkraft. Regelmäßig geübt, ist sie freier und effizienter ausgeführt, unsere Einstellung zur Schwerkraft geht weg von der drückenden Last und hin zu einer Kraft, die Raum und Stärke in unserem Körper schafft.
Hoch die Hände – das Gehirn wächst !
Zurück zu unserem aufgerichteten Vorfahr. Auf einmal hat der Mensch die Hände frei, um proteinreiche Nahrung zu sammeln wie kleine Krebse und Fische. Und so kommt es, dass der Mensch auch zur klügsten Spezies dieses Planeten wird, denn sein Gehirn beginnt zu wachsen. Während das Gehirn unserer Urahnen noch etwa 500 Kubikzentimeter mißt, verfügen wir heute über etwa 1230 Kubikzentimeter Gehirngewicht. Das soll nicht heißen, dass nur das Gewicht entscheidend für unsere Intelligenz ist; vielmehr sagt die Struktur und Form des Gehirnes etwas über die Denke aus.

Und warum interessiert das alles die Fascianista, fragt Ihr Euch ? Tja, Ihr Lieben, ganz einfach – weil auch die Hirnhaut Faszie ist. Über die Hirnhaut ist das Gehirn an das Lymphgefäßsystem angeschlossen. Sie führt zum Rückenmark und zum Zentralnervensystem.
Ganz innen im Schädel liegt die weiche Hirnhaut, darüber die Spinngewebehaut, und die derbe Außenschicht wird von der harten Hirnhaut namens “dura mater” gebildet. In komplexen Verwebungen reichen diese Faszienschichten in das Rückenmark bis tief in das Becken hinunter. Diese feste Faszie stützt und erhält die Form und Struktur des Gehirns, bietet Schutz bei einem mechanischen Trauma, und wirkt erschütterungs-dämpfend. Sie ist an Kopf und Kreuzbein fixiert und dazwischen beweglich. Dadurch ist es möglich, dass sich die Information über feine Bewegungen des Kopfes bis in das Kreuzbein ziehen kann. Diese Zweipunkt-Aufhängung am Schädel und am Kreuzbein finde ich interessant, denn diese beiden Punkte sind ständig auf der Suche nach einem optimalen Gleichgewicht. Jeder Zug an einem Ende beeinflusst die gesamte Einheit und führt zu einem neuen Gleichgewicht. Die Spannung wird auch durch die Atembewegungen beeinflusst.
Was passiert, wenn die Spannung der Dura aus dem Gleichgewicht gerät?
Was alles in dem sensiblen Bereich zwischen Schädel und Kreuzbein im Inneren der Wirbelsäule passieren kann, können wir uns ausmalen. Hier ein paar Beispiele: Blut kann nicht mehr so leicht vom Schädel wegströmen und staut sich, das in den Bindegewebszellen gebundene Wasser kann nicht mehr so leicht fliessen und die Fasern im Kopf verfilzen, es kommt zu Kopf- und Gesichtsschmerzen und zu Funktionsstörungen der Hirnnerven und ihrer Ganglien, die Kaumuskulatur verkürzt sich, der Schädelknochen, das Kreuzbein und das Steißbein sind nicht mehr so beweglich.

Die Folgen sind weitreichend, und genau hier tauchen viele Fragen auf. Können wir auch mit Faszientraining von außen auf die Dura einwirken? Wenn ja, welche klinische Bedeutung könnte das haben? Kann ich Kopfschmerzen und Kreuzschmerzen mit ein und derselben Übung selbst beheben? Fragen über Fragen, die in der jungen, hippen Faszienforschung bald beantwortet sein könnten. Laufend treten neue Erkenntnisse zu Tage, die wir für unser Wohl nutzen. Deswegen ist es so wichtig, einen Fazientrainer zu wählen, der sich auch ständig weiterbildet und uns diese und viele andere Fragen beantworten kann.
Hier kommt eine Übung, die ich in meinen Faszienstunden gerne praktiziere, um die galea aponeurotica (Bild oben), sowie die Faszien über Augen und Nase zu stimulieren. Passend zum Schulbeginn zeigt Euch diese ein wichtiger Vertreter des fitten Köpfchens… voilà !
Diese Faszienübung ist für´s Köpfchen: wir ziehen das linke Ohr Richtung linke Schulter, bleiben rechts aber so langgezogen wie möglich, um einen Knick im Nacken zu vermeiden. Nun strecke die Zunge raus ! Die Augen sind weit geöffnet, der Blick geht nach vorn oder zu den Augenbrauen. Für mehr Intensität machen wir zusätzlich “ha!” So lösen wir Spannungen im Gesicht. Clever wie Einstein, gell ?

Also ehrlich – mich als >spannungsabhängige Konstruktion< zu betrachten, eröffnet völlig neue Einsichten. Die Wirbelsäule als >Sequenz harmonischer Kurven< zu sehen hilft mir zu verstehen, warum sanfte, fließende Bewegungen für diesen Körperbereich so belebend sind und der innere Halt strukturerhaltend wirkt.
Und Gehirntraining hat gar nichts mit Schulbank drücken zu tun. Ist das nicht schön? Nun kann man endlich mit Fug und Recht nach Herzenslust, wie einst Pippi Langstrumpf & Albert Einstein, die Zunge rausstrecken,
darüber freut sich diebisch Eure
Leo Coach
Mag. Waltraud Leobacher Textquellen: Wikipedia "Hominisation", Stand 03. September 2016 Levin Stephen M., Martin Danièle-Claude: Biotensegrität - die Faszienmechanik. In: Schleip Robert, Findley T.W., Chaitow L, Huijing P.A.(Hg.):Lehrbuch Faszien.München: Elsevier Urban + Fischer, 2014; 101-105. Liem Torsten, Vogt Ralf: Intrakranielle und intraspinale Membranstrukturen. In: Schleip Robert, Findley T.W., Chaitow L, Huijing P.A.(Hg.): Lehrbuch Faszien. München: Elsevier Urban + Fischer, 2014;42-47. Malouin F., Richards C.L., Jackson P.L., Dumas F., Doyon J.: Brain activations during motor imagery of locomotor-related tasks: a PET study. Hum Brain Mapp. 2003; 19 (1): 47-62. Myers Thomas: Kraftübertragung über Anatomische Zuglinien. In: Schleip Robert, Findley T.W., Chaitow L, Huijing P.A.(Hg.): Lehrbuch Faszien. München: Elsevier Urban + Fischer, 2014; 96-100. Staugaard-Jones Jo Ann: Funktionelle Anatomie YOGA. Muskulatur, Asanas und Bewe-gungen. Grünwald: Copress Verlag 2016, 42-44.
Bilder: Fascia temporalis: Von Henry Vandyke Carter - Henry Gray (1918) Anatomy of the Human Body (See "Buch" section below)Bartleby.com: Gray's Anatomy, Tafel 378, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=158468 Galea aponeurotica: Von Henry Vandyke Carter - Henry Gray (1918) Anatomy of the Human Body (See "Buch" section below)Bartleby.com: Gray's Anatomy, Tafel 378, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=158468 Einstein: http://www.swp.de, Südwest-Presse Online, 12.09.2016 Fascianista: Privat Verantwortlich für Text und Bilder: Mag. Waltraud Leobacher | Kommunikationswissenschafterin September 2016 fasciafit.at
Ein Kommentar zu “Fittes Köpfchen wie Einstein”